Text 10. Szene: Der pädophile Grundschullehrer


Es ist natürlich kein Spielzeug, was sich Sylvia zugelegt hatte, es ist selbverständlich ein Sportgerät. Mit dem bodennahen Trittbrett des Tretrollers, was Sylvia zwischen 25 und 30 km fast jeden Tag leisten ließ und lässt, was sie eben als sinnvoll ansieht. Aber die Ursache daran lag, weil sie nach dem Anschlag und dem Überleben, im Rollstuhl zuerst verbrachte. Das war für sie unerträglich, eben wie die Unfähigkeit zu sprechen oder zu schreiben. 

Das Training brachte ihr eine körperliche Verbesserung. Wobei ihre Touren sich auf ihr Herz-Kreislauf-System positiv wirkten. Sie hatte sich kundig getan, so würde eine Stunde Training zwischen 700 und 950 Kalorien auf sie wirken. Sie begann natürlich täglich mindestens zwei Stunden zu fahren, sie musste es halt immer übertreiben. 

So trug sie wie jeden Tag das Sportteil aus der Wohnung, wo sie es unterbrachte. Über das Treppenhaus war ihr nicht möglich, auf keinen Fall wollte sie sich in Gefahr bringen. So beförderte sie das Sportteil über die Terrasse, durch den kleinen Garten, dann über den winzigen Eingang in den Innenhof, der durch die Kameras überwacht wurde. Danach ging sie den Weg zurück und verließ ihre Wohnung durch die Tür, schützte sich im Treppenhaus mit einer Art Knüppel in der Hand. Das wirkte. Wolfbring`s hielten Abstand, wenn es doch eine Begegnung gab. Vorsicht wurde für Sylvia mittlerweile zu einer Zumutung. Damit stand sie mit dieser Meinung nicht alleine da. 

Diese Jahreszeit, und damit dem Oktober, gefiel ihr in diesem Jahr ausnahmsweise. Die Sonne schien, es war nicht kalt, nur der Wind war manchmal zu stark. Bei Gegenwind wirkte es schon fordernd, Rückenwind dagegen brachte Spaß an der Bewegung. Ihr Kopf brauchte Freiheit. Dann ließ sie auch manchmal zu, dass sich Gedanken hoch begeben, die sich eigentlich in dem Keller der Seele befanden, die auch ein Pförtner bewachte, aber dass es manchmal Sinn gab, diese Gedanken zuzulassen. 

Das, was sie bereits durchlitten hatte, lag mehr als 30 Jahre zurück. Damals dachte sie auch, dass sie alles auf »die Reihe bekommen würde«. Damals lebte sie in einem Dorf, zusammen mit ihrem Sohn, der sich bereits in der vierten Klasse der dortigen Grundschule befand. Nach und nach waren seine Schulleistungen in den Keller gerutscht. Der zuständige Grundschullehrer erklärte ihr irgendwann, dabei auch grinsend, dass ihr Sohn in einer Sonderschule untergebracht werden sollte. Sylvia verstand damals irgendwie die Welt und damit ihre Situation nicht mehr. Wobei ihr Sohn auch irgendwann die Schule nicht mehr besuchen wollte. 

Sylvia rollte von der Gemeindestraße und befuhr dann den Wirtschaftsweg, dabei trat sie intensiver und beschleunigte darum mit ihrem Tretroller. Rechts und links von ihr waren die Maisfelder bereits abgeerntet. Der Blick wirkte befreiend für sie und wirkte darum auf ihre Erinnerung.

Sie war nicht die einzige, die damals litt. Die Opfer und auch die Angehörigen litten. Wobei es gab die, die litten und die, die sich Vorteile herausholten. Damals saßen Kinder in ihrer Küche und sie fingen an davon zu berichten, dass ihr Lehrer sie befummelte, ihnen viel zu nahekam. Auch dort anfasste, wo es beschämend war, dort angefasst zu werden. 

Sylvia hatte umgehend ein Treffen der anderen Eltern organisiert. Daran erinnerte sie sich, dass es einen Schnaps dazu gab, das wurde auch gebraucht. Sylvia erinnerte sich genau, dass sie zwei gekippt hatte und beide hatten keine Wirkung bei ihr, was sie in der Tat überraschte. Mit zwei Müttern wurde umgehend bei der Polizei eine Anzeige gemacht. Bereits am nächsten Morgen war der Lehrer nicht mehr in der Schule zu sehen, dafür Kriminalbeamtinnen, die vor der Klasse standen und dann einzeln die Kinder dazu befragten. Die Kinder redeten frei und bestätigten die Aussagen. 

Damals hatte eine der Mütter gesagt, dass bereits ein weiteres Kind vor vier Jahren diesen Lehrer hatte und das war schon schlimm, was er sich erlaubt hatte. Bei dem Kind in dem Jahr muss es sogar noch schlimmer gewesen sein. So sprach sie aber das änderte sie umgehend, nachdem der Schulleiter sie besucht hatte. Sie schwieg und zog auch die Anzeige zurück. Der Schulleiter hatte sich auch am folgenden Tag vor der Polizei in die Klasse gestellt und den Kindern klargemacht, dass sie dem Lehrer sowas nicht antun dürften, dass ihnen schlimmes passieren würde, wenn sie weiter auch nur etwas über ihn verraten würden. Die Kinder schwiegen, darauf bekam er von der Polizei einen Rüffel.

Die Psychologin, die sehr aktiv war, erklärte irgendwann nicht nur Sylvia, dass dieser Lehrer sich »den Appetit in der Klasse holt, essen würde er zuhause«. Er war verheiratet und hatte ein Mädchen und einen Jungen. Ruhe kehrt nicht ein. Irgendwann rief eine Frau und Mutter aus der entfernten Stadt bei ihr an. Natürlich war sie informiert über den Grundschullehrer, der tatsächlich in der Grundschule ihrer Stadt versetzt worden war. Dort hatte sie einen Sohn in der Klasse des versetzten neuen pädophilen Lehrers. Von Sylvia wurde erwartet, dass sie etwas unternehmen wird, denn irgendwie sollte sie zuständig sein. Für was? 

Der Wirtschaftsweg endete und gab den nächsten Weg frei. Rechts und links rollte sie an eingezäunten Wiesen vorbei, wo sich Pferde befanden, die Sylvia freundlich betrachteten, wenn sie vorbeikam, so bildete sich Sylvia ein. Am Ende des Weges befand sich eine Straße, die sie überqueren musste. Der folgende Weg war ansteigend, sie musste sich bemühen, ihn auch zu schaffen. Dafür brauchte sie Kraft, die sie aber auch mittlerweile hatte.

Damals war es ein hartes Gespräch, das Sylvia am Telefon führte. Die andere Mutter, die Sylvia knallhart berichtete, dass es Kinder in der Klasse gab, die einer anderen Nationalität angehörten, deren Eltern sich trafen, gemeinsam beteten und dann auch Gespräche miteinander führten. Die es erfahren hatten, dass ein neuer Lehrer ihren Kindern vorgesetzt worden war, der aus dem Vorwurf, sich Kinder gegenüber sexuell betätigt hatte, an der anderen Schule nicht mehr tätig sein durfte. Nun hatten diese Eltern eine Entscheidung getroffen. Sie sahen diesen Lehrer als Problem, das sie lösen wollten, sogar mussten. Sie hatten bereits eine Person gewählt, die bereits »mit einem Messer zwischen den Zähnen« dem Lehrer begegnen wollte und auch sollte. 

Den ersten höheren Bereich hatte Sylvia erreicht. So machte sie eine kurze Pause und trank ein paar Schlucke aus der Flasche Wasser, die sie bei ihrer Tour mitnahm. Links von ihr leben die Rehe, auf der anderen Seite kann sie die Pferde weiden sehen. Sie dürfen auch die Nacht im Freien verbringen. Kein Stall der sie einengt. Sie genießen ihr Leben in Freiheit die von einem Weidezaun zum anderen reicht. 

Damals war es Sylvia gelungen, ein junges Fernsehteam zu aktivieren. Sie konnte auch heute nicht mehr darüber lachen, als sie sich daran erinnerte, wie sie den Bericht begonnen hatten. So wartete das Fernsehteam an der Schule auf den Grundschullehrer. Zuerst freute der sich, als er dann direkt auf seine Neigung angesprochen wurde, drehte er sich kommentarlos um und flüchtete von dem Ort. Dabei wurden seine Schuhe aufgezeichnet, die Kamera war dann auf die Sohlen seiner Schuhe gerichtet. So war das Problem der Eltern dieser Schule gelöst und die Messer wurden auch von den Zähnen entfernt.

Natürlich sammelte das Fernsehteam weitere Infos zu dieser ganzen Sache. So wurde versucht, die entsprechende Schulaufsicht telefonisch zu erreichen. Auch darüber konnte Sylvia damals nicht lachen. Aber ganz schlimm war die Aufzeichnung, die sie mit der zweiten Mutter zeigte. Beide betrachteten ein beschriebenes Papier, erstellt für den Grundschullehrer, der sich so bemüht hatte für die Schüler. Und da stand geschrieben, dass sie traurig waren, dass er die Schule verlassen musste. Unterschrieben von weiteren Müttern und Dorfbewohner. 

Was allerdings auch heraus kam war, dass diese unterschreibenden Mütter für ihre Kinder eine Bescheinigung erhalten hatten, dass ihre Kinder für das Gymnasium in Klasse 5 erreicht hatten. Denn der Grundschullehrer durfte dort nicht mehr unterrichten, aber Empfehlung für das Gymnasium durfte er erstellen, die Zeugnisse hatte er auch erstellen können. Dieser Mann blieb in dem Dorf. Sylvia zog weg, zog in eine größere Stadt und konnte ihren Sohn in einer Schule unterbringen, einer Einrichtung, die sich in freier Trägerschaft befand. Das kostete natürlich Geld, dass sie damals hatte und sich auch leisten konnte. Nicht so wie die andere Mutter, das Kind musste in eine Sonderschule. 

Gedacht hatte Sylvia, dass dieser Grundschullehrer den Rest seiner Jahre in irgendeinem Keller verbrachte, um irgendwelche Bücher sortieren musste. Irgendwann 15 Jahre danach erhielt sie eine News aus einem Dorf aus einem anderen Kreis. Warum sie das bekam, konnte sie sich nicht erklären. Der Inhalt traf sie aber sehr hart. Das Dorf hatte sich verabschiedet von dem liebenswerten Grundschullehrer, der in Rente ging, feierlich und humorvoll wurde er in den wohlverdienten Ruhestand entlassen. 

Das letzte Stück musste Sylvia ihren Tretroller schieben. Dann hatte sie endlich den höchsten Bereich des Fliegerberges erreicht. Wie still es für Sylvia dort ist, wie friedlich, wie manchmal es auch in früheren Zeiten manchmal so war. Dann konnte ihr Blick nicht weit genug gerichtet sein. Ein freies Feld bis der Horizont endete, da, wo scheinbar ein Wald beginnt. Aber bis dahin wünschte sie sich einen weiten Blick. Wobei genau dort, weiter unten, entdeckte sie die Hochlandrinder, die sich friedlich bewegten. 

Über den Wäldern kann sie noch die Spitze der St. Remigius Kirche erkennen. Auch dort sollen vor mehr als 30 Jahren junge Menschen missbraucht worden sein. Die brauchten den Tod des Priesters, um reden zu können. Die Sportler, die auch erst nach Jahren über den Trainer reden können. Und was hat die Anzeige gegen den Grundschullehrer gebracht? Die Flucht von ihr und ihrem Sohn aus dem Dorf. Der Lehrer musste 5.000 D-Mark zahlen. Bestimmte das Landgericht. Jetzt ist er ein Taxifahrer und eine Anzeige von Sylvia, wobei sie fast draufgegangen wäre. 

Der Fliegerberg machte ihren Kopf frei. Wie bestimmte Ereignisse so Einfluss nehmen können auf ihre Lebenseinstellungen, auf ihr Verhalten auf ihr Tun. Da fühlte sie sich viele Jahrzehnte lang als eine überzeugte Pazifistin. Aber war viele Jahrzehnte lang von Gewalt umgeben. Erlebte jetzt selbst Gewalt, als Pazifistin eben irgendwie wie das Lämmlein inmitten der Wölfe. Sylvia überlegte, ob sie einen Teil von sich preisgeben will, das scheinbar in all den Jahren irgendwo zwischen Groß- und Stammhirn geschlummert hatte. Und dann? Es wäre nicht mehr als das Lämmlein zu sein, dass sich scheinbar den Wolfspelz übergezogen hat und dann nach Art der Wölfe blökt? 

Ihr Blick wanderte auf den Weg, der sich nahe des Waldes verlief, weiter entfernt unten vom Fliegerberg. Sie musste die Ruhe verlassen, aber der Weg dorthin hatte sie wieder stark gemacht. Das wird sie auch wieder benötigen, vermutlich sehr viel Kraft … 


Auch:

Tuna von Blumenstein

Mord in Genf

Der Krimi ist unter der ISBN 978-3-8482-2545-3 überall im gut geführten Buchhandel erhältlich und kostet 12,90 Euro.

Die Handlung in diesem Buch ist fiktiv, die Namen frei erfunden.



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